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Die Talsperre Lago Bianco am Berninapass

100 Jahre plus: Kein Problemalter für Talsperren

23. Juli 2024
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Wer Staudämme für starre, unbewegliche Mauern hält, irrt. Allein der Beton dehnt sich und schrumpft – und bekommt gelegentlich sogar Risse. Trotzdem braucht man sich keine Sorgen um die Sicherheit von Talsperren in der Schweiz zu machen. Sie gehören zu den am besten überwachten Bauwerken, erklärt der Ingenieur, der den Lago-Bianco-Stausee jährlich überprüft.

«Arlas» und «Scala» halten das Wasser am Berninapass seit über 110 Jahren im Zaum. Beide sind Staumauern des Lago Bianco: Erstere ist 280 m Meter breit und 13 Meter hoch; sie blockiert den Abfluss des Wassers nach Norden in Richtung Engadin. Die zweite ist 26 Meter hoch und fast 200 Meter breit und staut das Wasser gegen Süden, in Richtung Puschlav. Hier arbeitet Bauingenieur Remo Baumann, der beide Staumauern bestens kennt, anfänglich als Mitarbeiter von Repower und mittlerweile als Inhaber der mit der Jahreskontrolle der Talsperren beauftragten Firma. 

Baumann war dabei, als das Stauwerk vor gut 20 Jahren erneuert wurde. Seither begutachtet er jedes Jahr die nördliche und die südliche Mauer. Deshalb weiss er bestens Bescheid über den Zustand dieser Bauwerke. Eine grundlegende Frage zu ebendiesem Zustand ergibt sich aus der Zeit: Die Gewichtsmauern wurden zwischen 1910 und 1912 erstellt; ihre theoretische Lebensdauer – 100 Jahre plus – wäre also erreicht. «Die reguläre Überwachung bestätigt ihre einwandfreie Qualität», beruhigt der Ingenieur aus dem Puschlav.

Die Südmauer des Lago-Bianco-Stausees
Die Südmauer des Lago Bianco ist auch nach über 100 Jahren «Arbeit» in einwandfreiem Zustand.

Eine Begehung jeden Monat

Das Kontrollsystem ist klar definiert: Einmal im Monat reist ein betriebsinterner Talsperrenwärter hoch zum Bernina, um die Anlage in Augenschein zu nehmen. Sicherheitsexperte Baumann führt seine Jahresinspektion jeweils im Sommer durch – bei niedrigem Wasserspiegel, um die Staumauern visuell zu begutachten. Aufgrund des guten Zustands der Bauwerke wurde mit der Sektion Talsperre im Bundesamt für Energie (BFE) vereinbart, den Lago-Bianco-Stausee alle fünf Jahre umfassender zu begutachten. Damit ist der Kontrollaufwand deutlich geringer als an vielen anderen Staudämmen in den Schweizer Bergen. Gemäss Remo Baumann verlangt die nationale Aufsichtsbehörde häufig eine kontinuierliche Fernüberwachung von Talsperren. 

Dass sich auch derart solide Bauwerke bewegen, ist nicht beunruhigend. Denn mit jedem Wechsel in der Aussentemperatur, beim Wasserstand oder nur schon altersbedingt kann sich Beton verformen, dehnen und schrumpfen. Ein davon abweichendes Verhaltensmuster entdeckten die Kontrolleure vor gut 20 Jahren am Lago Bianco: Feine, zentimetergrosse Risse an der Oberfläche verrieten, dass es zu Quellbildungen im Betonkörper kam. Keine akute Gefahr für die Sicherheit, aber ein Grund, dieser Deformation umgehend auf den Grund zu gehen.

Risse am Beton

Die Ursache war eine chemische Reaktion zwischen den Materialien aus unterschiedlich alten Mauerschichten. Die Originalsperren wurden aus «Zyklopenbeton» gebaut. Anfang des letzten Jahrhunderts wurden Blocksteine aus den Geröllhalden vor Ort verwendet und mit Zement und Mörtel vermischt. Zur Erhöhung des Speichervolumens kam in den 1940er-Jahren eine vier Meter hohe Mauerkrone dazu. Der dafür verwendete Zement vertrug sich aber offenbar schlecht mit dem Ursprungsgestein – was Jahrzehnte später zu Rissen und Quellschäden führte.

Aus Sicherheitsüberlegungen entschloss sich der damalige Stauwerkbetreiber, die KWB (heute: Repower), zur vollständigen Reparatur: Die schadhaften Mauerkronen wurden 2001 ersetzt mit einer vorab geprüften Betonmischung. Als Ersatz für die lokalen Geröllsteine, ein seltener Gneis, wurde nun Kies aus üblichem Granit verwendet. Gleichzeitig hielt man sich bei der Beigabe von Zement soweit möglich zurück, um das Risiko von chemischen Veränderungen im Gestein zu verhindern, aber ohne seine Festigkeit zu mindern. 

Bemerkenswert ist, dass die damals erforschte Betonrezeptur auch bei anderen Bauprojekten auf Aufmerksamkeit stösst und nichts an Aktualität eingebüsst hat. Im klimafreundlichen Hochbau sind inzwischen Betonsorten mit reduziertem Zementgehalt gefragt. Denn jedes Gramm Zement weniger verringert den CO2-Fussabdruck von Beton. 

Tiziano Crameri, Leiter Planung Bau bei Repower, setzte sich in seiner Masterarbeit in Civil Engineering zum Ziel, die Gewichtsstaumauer Arlas des Lago Bianco am Berninapass besser zu verstehen. Faseroptische Messsysteme geben Aufschluss über Bewegungen innerhalb der Staumauer und wie sich Temperaturunterschiede auf die Staumauer auswirken.

Abdichtung mit Flüssigkunststoff 

Wie innovativ der Unterhalt von Staumauern ist, beweist auch die Sanierungsmassnahme an der Südseite des Lago Bianco. Unterhalb der erneuerten Krone schützt eine Folie den Beton vor möglicher Wasserzufuhr und bannt damit die Gefahr vor neuerlichem Quellen. Um den Kunststoff seinerseits visuell einfacher kontrollieren zu können, wurden die äusseren Schichten in unterschiedlichen Farben aufgetragen. Sollte die Oberfläche reissen, scheint sofort eine andere Farbschicht durch. 

Die Kunststoffabdichtung war als kurzfristige Reparatur gedacht. Gemäss Remo Baumann ist ihre Lebensdauer demnächst erreicht. Zwar steigt dadurch der Kontrollaufwand. Aber tauchen defekte Stellen auf, lassen sich diese durch eine neuerliche Beschichtung schnell abdichten. Wie es mittelfristig mit den Lago-Bianco-Staumauern weitergeht, hängt vom bereits vorliegenden Erweiterungsvorhaben ab. Die Konzession für eine Aufstockung der beiden Talsperren liegt vor. Wann die Realisierung startet, ist noch nicht definiert. Aber sobald es los geht, würden die Betonmauern im Norden und Süden ein letztes Mal repariert und anschliessend mit neuen Betonschichten umhüllt und aufgestockt. 

Gletscher wurde überwacht

Nicht nur das Materialverhalten beeinflusst die Sicherheit von Staudämmen. Auch der Standort mitten in den Bergen ist ein relevanter Faktor und erfordert regelmässige Überwachung. Über einige Jahre drohte die Zunge des Cambrena-Gletschers an der Westflanke abzubrechen und in den Lago Bianco zu stürzen. Die Folgen davon wären Flutwellen und Wasseralarm für das Engadin und das Puschlav gewesen. Pläne zur Evakuation der Bevölkerung liegen vor. Auch ein Frühwarnsystem hatten Glaziologen der ETH damals installiert. Inzwischen schmolz allerdings ein grosser Teil der absturzgefährdeten Eismasse ab, so dass die Gefahrenstufe 2 im letzten Jahr aufgehoben werden konnte – und ein weniger aufwändiges Überwachen der hochalpinen Umgebung genügt. 

Sicherheits- und Überwachungsstandards für Talsperren

Der inländische Wasserstrom wird zur Hauptsache in 220 grossen Stauwerken erzeugt, die baulich unter direkter Aufsicht des Bundes stehen. Dafür zuständig ist die Sektion Talsperren des Bundesamts für Energie. Kleinanlagen – vom Stauweiher bis zum Retentionsbecken – gibt es jedoch fünf Mal mehr; deren Sicherheit beaufsichtigen die jeweiligen Standortkantone. Für beide Talsperrentypen ist das Sicherheitskonzept dasselbe. Es beinhaltet Nachweise für die konstruktive Sicherheit des Bauwerks, die Überwachung der Stauanlage sowie die Notfallplanung bei einer Naturkatastrophe wie Hochwasser oder Erdbeben.

Nur geringe Sorgen bereitet die lokale Hochwassergefahr. Zwar muss das Bauwerk, wie alle Talsperren in der Schweiz, einem Ereignis standhalten, dessen Ausmass alle 1000 Jahre zu erwarten ist. Doch die lokale Nachkontrolle am Bernina ergab gemäss Remo Baumann: «Das bisherige Schutzkonzept genügt respektive werden die erhöhten Anforderungen sogar übererfüllt».

Erdbebenrisiko wird überprüft

Noch ausstehend ist dagegen eine Einschätzung der zuständigen nationalen Aufsichtsbehörde zum Erdbebenrisiko. Auch diese Gefahr wurde im Rahmen einer europäischen Harmonisierung vor Kurzem erneut analysiert. Neu wird in den Bewertungsgrundlagen mit einem Ereignis gerechnet, das statistisch etwa alle 10’000 Jahre eintreten soll. 

Ab nächstem Jahr soll Klarheit herrschen, wie gut die Schweizer Staudämme darauf vorbereitet sind. Die BFE-Sektion Talsperren wird für jedes einzelne Stauwerk bekannt geben, ob allfällige Zusatzsicherungen vorzusehen sind. Gemäss Baumann ist sehr wahrscheinlich, dass die Talsperren auf der Bernina-Hochebene konstruktiv zu verstärken sind. Vorausgesetzt, sie werden in ihrem aktuellen Zustand noch länger weitergenutzt. Andernfalls müsste die Verbesserung in den künftigen Ausbau des Lago-Bianco-Stauwerks integriert werden.

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